„Was wir aus diesem Kampf gelernt haben, ist das, wenn man sich zusammen tut, auch wenn man nur eine kleine Gruppe ist, das Unmögliche möglich werden kann!“

Interview vom Frauenverband Courage in Hannover mit den Frauen der VW-Sitech-Arbeiter

Hallo liebe Frauen,

wir vom Frauenverband Courage in Hannover haben vom Einsatz eurer Männer, zusammen mit  4 weiteren Sitech-Arbeitern bei Sitech in Emden gehört. Emden ist 250  km von eurer Heimat Hannover entfernt!!

Wir sind empört. Das ist ein Skandal.

Das ist eine Fahrzeit hin und zurück von täglich über 6 Stunden und somit gar nicht zu realisieren! So werden eure Männer gezwungen, als Wochenendfahrer zu leben. Eine unzumutbare Belastung für die gesamte Familie, noch verschärft durch die Corona-Krise! Es ist offensichtlich, dass auf diesem Wege die Kollegen dazu gebracht werden sollen, von sich aus selbst zu kündigen.

Zum besseren Verständnis für die LeserInnen hier einige Informationen zur Vorgeschichte:

Am  31.03.2020 hat die Firma Sitech (eine 100 % Tochterfirma von VW) das Werk Hannover geschlossen. 21 Sitech-Arbeiter haben sich die Arbeitsplätze nicht „abkaufen“ lassen.  Sie haben die Abfindung aus dem Sozialplan nicht angenommen. Daraufhin brach VW/Sitech ein jahrzehntelanges Tabu und kündigte diesen Kollegen „betriebsbedingt“. Dagegen klagten sie.  Nachträglich musste Sitech diese betriebsbedingten Kündigungen vollständig zurücknehmen. Die ausstehenden Löhne müssen nachgezahlt werden. Das ist ein riesiger Sieg für die Kollegen und auch für die breite Solidarität. Im September 2020 gewannen schließlich 6 Kollegen die Kündigungsschutzklage. Am 05.03.2021 wurde dieses Urteil in einem „Gütetermin“ bestätigt. Aber den Kollegen wurden lediglich Arbeitsplätze in Emden angeboten!

1) Wie geht es Euch und euren Kindern?

Wir sind psychisch und moralisch am Ende; wir leben ein Leben ohne Vater, ohne Ehemann!

Unsere Kinder weinen teilweise jeden Tag, weil sie den Vater vermissen! Mich hat es sehr mitgenommen, als meine 5-jährige Tochter sagte:

Wir haben einen Papa der NIE da ist!

2) Wie habt Ihr die Kündigung eurer Männer im März 2020 empfunden?

Am Freitag, den 13.03.2020 wurden unsere Männer mit MÜLLSÄCKEN nach Hause geschickt! Wie unmenschlich kann man nur sein?!

Auf gut deutsch geht es uns SCH…..

Unsere Männer haben hart für einen Festvertrag gearbeitet. Sie haben trotz Krankheit (teilweise mit 40 Grad Fieber!) KEINEN einzigen Krankheitstag gehabt!

Das ist nun der Dank für den Einsatz für Sitech!

In Hannover gibt es bislang keine Kurzarbeit im Gegensatz zu Emden und Wolfsburg!

Unserer Meinung nach ist die Richterin auf der Arbeitgeberseite!

3) Wir haben gehört, dass die Richterin im letzten von euren Männern gewonnenen Prozess geäußert hat, (Zitat) ,,die Kläger würden sich die Rosinen raus picken, statt dankbar zu sein für das Arbeitsangebot in Emden“, nur weil eure Männer den Wunsch geäußert haben in Hannover oder Wolfsburg einen Arbeitsplatz zu erhalten. Was macht das mit Euch, wenn Ihr so etwas hört?

Es frustriert uns und wir sind enttäuscht! Wir finden es echt schade; dass die Richterin nicht einmal versucht hat, sich in unsere Lage zu versetzen. Jeder Mensch, insbesondere, wenn er Kinder hat, so wie wir, würde sich echt vorher Gedanken machen, bevor er überhaupt so etwas äußert! Unserer Meinung nach ist die Richterin auf der Arbeitgeberseite!

Wir haben offene Rechnungen mit Mahnungen, Schulden bei Freunden und im Familienkreis

4) Seit über einem Jahr gefährdet das Coronavirus die gesamte Menschheit. Genau in dieser Situation noch zusätzlich die langen Fahrten auf sich nehmen zu müssen, die Familie nicht zu Hause unterstützten zu können, dazu noch die Kosten für eine doppelte Haushaltsführung ….

Wie geht es euch damit und euren Kindern?

Wir sind enttäuscht! Vor allem in so einer Situation wird uns unser gesamtes Leben erschwert!

Nicht mal die Löhne wurden bislang voll ausgezahlt; wir haben doppelte Kosten an Miete, Strom, Sprit, Lebensmittel, Einkauf. Essen muss doppelt gekocht werden……

Finanziell geht es uns sehr schlecht. Wir haben offene Rechnungen mit Mahnungen, Schulden bei Freunden und im Familienkreis. Wir können auch nichts mehr unternehmen, da das finanziell nicht drin ist.

5) Wie geht es den anderen Familien?

Den anderen Familien geht es nicht besser. Wir sind alle davon betroffen! Wir haben alle keine Unterstützung. Wir sind alle psychisch und seelisch fertig.

6) Wie sieht euer Alltag allein zu Hause mit den Kindern aus?

Als Mütter von zwei Kleinkindern bzw. drei Kindern, teilweise schulpflichtig, sind wir den ganzen Tag „auf Trab!“ Kochen, Spielen, Lernen, Rausgehen, Einkaufen….. 24 Stunden in fast der ganzen Woche sind wir allein mit den Kindern!

7) Wie sieht euer Wochenende aus?

Samstags können wir endlich den ganzen Tag mit dem Vater/Mann gemeinsam was unternehmen. Aber in der Spätschichtwoche kommen unsere Männer erst Samstag zurück!  Und sonntags gehts für den Vater/Mann dann auch wieder zurück nach Emden! Es ist echt traurig, dass uns unser Wochenende so teilweise auch genommen wurde!

8) VW gehört zu den größten Autokonzernen der Welt, dem es nicht möglich sein soll, den Sitech-Kollegen Arbeitsplätze wohnortnah in Hannover oder Wolfsburg anbieten zu können, sondern lediglich im 250 km entfernten Emden.

Was meint ihr, steckt hinter dieser Vorgehensweise? Warum macht VW das? Und wie empfindet Ihr das?

 

VW möchte, dass man „gehorcht“!

Deshalb machen sie das extra so. Wenn man gekündigt ist, soll man es so akzeptieren! Die Firma soll uns doch nicht weismachen, dass so ein großes Unternehmen keine wohnortnahen Arbeitsplätze für eine „Handvoll“ Arbeiter zur Verfügung hat. Kosten sollen gespart werden, wo es nur geht!

9) Könnt Ihr euch irgendwie gegenseitig mit den anderen Familien unterstützten in dieser schwierigen Zeit?

Jede Familie hat so ihre eigenen Probleme. Wir kommen nicht dazu, weil man 24 Stunden jeden Tag, „rund um die Uhr“ mit den Kindern und Haushalt beschäftigt ist! Wir haben nicht mal Zeit, um uns für eine Stunde zurück zu ziehen, um ein bisschen abzuschalten.

10) Wie soll es aus eurer Sicht weitergehen? Was würdet Ihr euch wünschen für euch selbst, eure Kinder und die anderen betroffenen Kollegen mit Familien?

Wir wünschen uns, dass unsere Männer/Väter zukunftssichere Arbeitsplätze in der Nähe unserer Heimat bekommen, damit wir wieder unser altes Familienleben weiterleben können. Dass unsere Kinder friedlich schlafen und ihre Väter jeden Tag sehen können.

Wir freuen uns über Solidarität

11) Welche weitere Hilfe benötigt Ihr konkret in eurem Alltag und auch im weiteren Kampf um wohnortnahe Arbeitsplätze?

Vorab möchten wir mal unsere Enttäuschung über die IG Metall loswerden, die unsere Männer fast gar nicht unterstützt hat.

Umso mehr freuen wir uns über die Solidarität, die wir erfahren haben und die uns gestärkt hat!

Es haben uns einige VW-Kollegen und Einzelpersonen, das VW-Komitee und Courage-Frauen aus Hannover sehr unterstützt.

Wir haben gemeinsam mit euch beraten, die Öffentlichkeit über das empörende Vorgehen von VW und Sitech zu informieren.  Solch ein Vorgehen und Umgang mit Menschen bezeichnen wir  als Mobbing! Wir freuen uns über jegliche Unterstützung unserer Familien, sei es bei der Kinderbetreuung oder andere Hilfe.  Wichtig ist für uns eure Solidarität und Unterstützung natürlich auch bei den nächsten Gerichtsprozessen. Dann wird es darum gehen, dass unsere Männer hoffentlich endlich wohnortnahe Arbeitsplätze erhalten.

Schließen möchten wir mit einem Zitat eines Sitech-Kollegen:

Was wir aus diesem Kampf gelernt haben ist,  dass wenn man sich zusammen tut, auch wenn man nur eine kleine Gruppe ist, das Unmögliche möglich werden kann!

(Das Interview  führten Ilse-Marie und Conni vom Frauenverband Courage e.V. Hannover.  Die Namen der interviewten Frauen werden hier bewusst nicht genannt.)