Ehrlich gesagt, ich hatte große Sorgen vor der Operation!

Bericht einer Couragefrau aus dem Ruhrgebiet

Folgendes ist wahr, und es hört sich gruselig an in einem der reichsten Länder der Welt. Es war im Februar – vor der Coronakrise.

Es machte mich sehr wütend, überall waren die Sparmaßnahmen im Gesundheitssystem sehr deutlich zu sehen, Hauptsache billig. Als Courage-Frau und beruflich viele Jahre im Gesundheitsbereich tätig, bin ich sehr gut über die Folgen der Sparmaßnahmen für Patienten und Personal informiert.

Eingerahmte Qualitätszertifikate wirken wie blanker Zynismus

Das Pflegepersonal permanent gestresst, die Nachtwache hatte gekündigt. Das war der Rahmen, wo sich diese Horrorgeschichte im Ruhrgebiet abspielte und sicher sich noch abspielt. Da wirken eingerahmte Qualitätszertifikate im Eingangsbereich als blanker Zynismus.

Um meine Sorge besser zu verstehen, sollten die Leserinnen und Leser wissen, dass das die fünfte urologische-gynäkologische Operation war. Meine Gedanken drehten sich wie im Karussell – geht es dieses Mal gut, werde ich die Vollnarkose gut überstehen, gelingt es den Ärzten, die Stelle genau zu operieren?

Hauptsache billig

Die Voruntersuchungen waren unangenehm und der Rahmen des Ganzen vermittelte den Eindruck, Hauptsache billig. Das stört nicht nur den Patienten, sondern auch das Personal. Dementsprechend war die Stimmung. Die Ärzte und das Assistenzteam waren bemüht, sich in diesen sehr engen Voruntersuchungsräumen den Stress nicht anmerken zu lassen. Natürlich sind solche Voruntersuchungen schmerzhaft, und als Frau ist es immer unangenehm, sich durch einen Mann untersuchen zu lassen.

Die Diagnose war für mich ein Schock, und ich konnte das schlecht verarbeiten. Der Arzt zeigte sich nicht sonderlich interessiert über meinen Schock, oder er hatte schlicht und einfach keine Zeit für meine Ängste. Ich wurde dann der Station zugewiesen und ging mit meiner Akte unter dem Arm dahin.

Pflegepersonal im Stress

Ein Zimmer für 3 Patientinnen. Mein Bett war am Fenster. Die Schwester bemerkte, dass keine Bettdecke unter der Folie war: keine Bettdecke auf der Station. Meine Zimmernachbarin, eine über 80-jährige Frau, meinte: „Ja, hier wundert mich nichts mehr, hoffentlich bekommen Sie heute eine Decke“. Sie lag eine Woche dort und konnte ein Lied singen, über alles, was dort nicht mehr funktionierte. Nach einer Blutvergiftung war sie auf viel Flüssigkeitszufuhr angewiesen und es ging ihr sehr schlecht. Die Tochter, die sich in dem Bereich sehr gut auskennt, hatte  durchgesetzt, bei ihrer Mutter zu übernachten, weil die Versorgung so schlecht war.

Das Pflegepersonal hatte kaum Zeit für die Patienten. Die jungen Auszubildenden legten viel Tempo drauf, aber ihnen war auch eine gewisse Resignation anzusehen.

Inzwischen lag auf dem Zimmer die dritte Patientin, blind, sehr schwerhörig und nicht gehfähig. Ihr Mann machte das Personal aufmerksam, dass das Butterbrot entsprechend vorbereitet werden müsste, damit sie essen kann. Leider hat das Personal auch ihr das Tablett nur so hingestellt. Ich machte die Schwester aufmerksam, dass die Frau nichts alleine kann.

Die Patientin schellte, bis KEINER kam!

Sie meinte, sie käme nach der Essensaufteilung wieder zu ihr. Gar nichts passierte. Ich machte erneut die Schwester aufmerksam. Sie ignorierte mich und ging weiter. Ich wurde immer unsicherer, dort zu bleiben. Der alten Dame habe ich das Brot geschmiert, in kleine Stückchen geschnitten und den Tee bereitgestellt. Sie konnte etwas essen und meinte zu mir:“ Schwester, ich muss zur Toilette“. Sie hatte einen Katheter. Ich gab ihr die Schelle und sie schellte bis KEINER kam.

Mehrere Male sprach ich das Pflegepersonal an, auch wegen einer Bettdecke. Alle nur im Stress: „Wir kümmern uns darum“, aber bis am Abend gab es keine Bettdecke. So ging ich selbst auf eine andere Station und bekam eine sehr dünne, aber keine frische Bettdecke. Erst nach der Übergabe kam die Nachtschicht.

Mehr Leute müssen auf die Straße gehen

Wir berichteten der Schwester, was los ist. Sie berichtete, dass sie tags zuvor gekündigt hatte. Sie, eine junge Frau, war vorher im Tagesdienst, aber der Stress hat sie krank gemacht – das Gesundheitssystem frustriert sie. Alles, was sie gelernt hat und die Freude am Job, waren weg. Ich habe sie auf Courage hingewiesen, doch sie sagte:  „Ich will nur meine Ruhe haben“. Ich habe trotzdem nachgehakt, dass das nicht die Lösung wäre. Sie war froh, dass einige etwas machen und wünscht sich, dass mehr Leute auf die Straße gehen.

Das Gesundheitssystem ist ein Geschäft

Bei der Morgenvisite das Übliche, der Chefarzt mit Team kommt mit ernster Miene und geht mit ernster Miene. Eine vernünftige Antwort für unsere Fragen und Beschwerde hat er nicht. Es wirkte so arrogant, vielleicht auch verzweifelt, aber trotzdem ist das keine Art.

Ich habe meine Sachen gepackt und wollte keine Sekunde länger dortbleiben. Aber vorher habe ich mit der Klinikdirektorin persönlich gesprochen. Sie nahm sich Zeit und sagte ruhig, dass alles ein Geschäft ist, sie hätten oft keinen Einfluss auf die Sparmaßnahmen, weil politische Entscheidungen ohne sie getroffen werden. Ich konterte, wenn sich die Kliniken nicht wehren, dann tragen sie das kranke System mit und erlauben, dass es sich nicht ändert. Ihr Gesicht wurde immer verzweifelter. Ich habe ihr gesagt, dass das eigentlich eine gefährliche Pflege ist. Sie bestätigte das alles und bat mich, nicht zu gehen, ohne ein Gespräch mit der Oberärztin zu haben.

Beide haben sich entschuldigt, dass diese gesamte Situation so ist, aber haben mich auch sehr freundlich und kompetent darauf aufmerksam gemacht, dass diese OP unbedingt gemacht werden muss. Deswegen entschied ich mich, zu bleiben. Ich fragte sie, warum man als Patientin sich auf den Kopf stellen muss, um als Mensch wahr genommen zu werden? Die Antwort des Urologen war:

„Das Gesundheitssystem ist krank“

Nach der OP war die Versorgung auf der Station weiterhin schlecht. Die Medikamente wurden ohne Aufklärung dahin gelegt, sehr harte Schmerzmittel lagen ohne Ende bei mir auf dem Tisch – nicht aufgeteilt für morgens, mittags, abends. Ich spracht den Chefarzt an, warum dort Tavor liegt. Er und das Pflegepersonal meinten, dass wäre gegen die Schmerzen. Da ich beruflich sehr gut über Tavor informiert bin und in der Altenpflege die Menschen oft damit ruhig gestellt werden, habe ich erklärt, dass sie das für meine medizinische Behandlung streichen sollen.

Das kapitalistische System gehört abgeschafft

Eine schriftliche Beschwerde habe ich auch gemacht. Dennoch ist mir klar, dass das nicht groß etwas bewirken wird, wenn das kapitalistisches System nicht abgeschafft wird. Durch Corona kristallisiert sich die Krise im Gesundheitssystem sehr deutlich, das Pflegepersonal will kämpfen und fordert mehr Unterstützung dafür. Sie müssen aber lernen, sich zu organisieren, zum Beispiel bei der Gewerkschaft Verdi oder beim Frauenverband Courage, so bekommen sie Kampfkraft, um solche Kämpfe erfolgreich durchzustehen.

Courage-Frau aus dem Ruhrgebiet