Am 15. Mai vor 150 Jahren wurde in Deutschland der §218 ins Strafgesetzbuch aufgenommen. Betroffenen Frauen und Ärzt:innen wurden als Kriminelle abgestempelt und hart bestraft. Aber seit 150 Jahren gibt es auch den Widerstand dagegen.
Seit 30 Jahren engagiert sich der Frauenverband Courage für das Selbstbestimmungsrecht der Frauen und die ersatzlose Streichung des §218.
In Deutschland kein Problem mehr?
„Das ist doch in Deutschland praktisch längst kein Problem mehr“, denken viele.
Und doch wird zunehmend Druck auf Ärzt:innen ausgeübt, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Informieren sie öffentlich z.B. über die Methoden, die sie verwenden, machen sie sich strafbar. Das wissen wir spätestens seit Kristina Hänel von einem Abtreibungsgegner vor Gericht gezerrt und verurteilt wurde.
Der Abbruch einer Schwangerschaft ist laut Gesetz grundsätzlich eine Straftat – auch nach der „Reform“ von 1995. Er bleibt nur unter bestimmten Bedingungen straffrei. Frauen, die ihre Schwangerschaft beenden wollen, müssen nicht nur bürokratische Hürden nehmen und stehen unter moralischem Druck. Ein zeitgerechter Abbruch wird erschwert durch die Schließung von Kliniken und gynäkologischen Abteilungen, mangelnde Ausbildung Studierender, die Weigerung von Mediziner/innen Abbrüche durchzuführen – sei es aus „Gewissensgründen“ oder weil sie durch sogenannte „Lebensschützer“ bedroht werden.
Am 29. Juni 1995 wurde nach heftigem Streit und Protesten eine „reformierte“ Regelung des §218 vom Deutschen Bundestag verabschiedet. Sie besteht im Wesentlichen noch heute.
Bundesverfassungsgericht stellt 1993 „grundsätzliche Pflicht zum Austragen des Kindes“ fest.
1993 hatte der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts die am 26. Juni 1992 beschlossene Fristenlösung gekippt und für verfassungswidrig erklärt hatte.
Für die Frau gäbe es die „grundsätzliche Pflicht zum Austragen des Kindes“ und der Staat müsse dafür sorgen, dass sie dieser nachkomme, urteilten eine Frau und sieben Männer. Vier Richter waren praktizierende Katholiken, ein weiterer zählte als CDU-Politiker 1974 zu den Klägern gegen die damalige Fristenlösung.
1991 wurde der Frauenverband Courage gegründete. Eine seiner ersten bundesweiten Kampagnen war eine Postkartenaktion an das Richtergremium mit folgendem Text:
“Wir sind gespannt, ob Sie im Namen des Volkes Recht sprechen werden. Denn das Volk hat bereits sein Urteil gefällt: Über 90% der Frauen und über 80% der Männer sprechen sich für das Selbstbestimmungsrecht der Frau über eine Schwangerschaft aus. Wollen Sie etwa deutlich machen, dass sich das Bundesverfassungsgericht nur für eine kleine radikale Minderheit spricht? Wir werden jedenfalls mit Courage weiterkämpfen! NEIN zum Paragraphen 218! JA zu einer lebenswerten Zukunft!“
„Reform“ des §218 von 1995 kriminalisiert und bevormundet Frauen weiter!
Die Regelung von 1995 setzte die Vorgaben des Gerichts um: Ein Schwangerschaftsabbruch ist grundsätzlich rechtswidrig. Er bleibt aber straffrei, wenn er innerhalb der ersten drei Monate nach einer verpflichtenden Konfliktberatung und einer anschließenden „Bedenkzeit“ von 3 Tagen erfolgt. Nicht rechtswidrig ist eine Abtreibung ausdrücklich, wenn eine medizinische oder kriminologische Indikation vorliegt. Seit dem 1. Januar 2010 gelten die Beratungspflicht und die 3-tägige „Bedenkzeit“ auch bei einer medizinischen Indikation (Gesundheitsgefährdung der Schwangeren oder schwerer Schädigung des Fötus).
Das heißt Frauen, die ein Kind aus anderen Gründen nicht austragen wollen oder können werden grundsätzlich zu Verbrecherinnen erklärt. Der §218 bleibt ein Instrument zur Kontrolle der Frauen.
Der Frauenverband Courage fällte damals in einem Flyer sein eigenes Urteil, das wir auch heute noch uneingeschränkt unterschreiben:
„Das Urteil (Gesetz) ist ein Schlag ins Gesicht aller Frauen, die in den wichtigen Fragen ihres Lebens selbst entscheiden wollen.
Wir sind nicht die willenlosen ‚Gebärmütter‘, die die Richter aus uns machen wollen. Dem befruchteten Ei gestehen sie ein eigenes Lebensrecht zu, das gegen die schwangere Frau verteidigt werden muss. Ihr wird eine generelle Gebärpflicht auferlegt (bis auf die Ausnahmefälle: Bedrohung des Lebens der Frau, Behinderung des Kindes, Vergewaltigung). (…) Uns soll das schlechte Gewissen einer unrechtmäßigen Handlung gegeben werden. Wir sollen den Schwangerschaftsabbruch als Gnadenakt statt als Recht ansehen. Mehr noch, entscheiden wir uns für den Abbruch werden wir als Rechtsbrecherinnen abgestempelt, aber (vorläufig) nicht strafrechtlich verfolgt. Aus Angst vor Kriminalisierung weigern sich auch immer mehr verunsicherte Ärzte und Kliniken weiterhin Schwangerschaftsabbrüche vorzunehmen.
Bestraft werden wir trotzdem – vor allem Frauen ohne dickes Portmonnaie. Die Krankenkassen zahlen nur bei den oben genannten Indikationen. Die Mehrheit der Frauen muss selbst bezahlen – eine Regelung für Reiche. Der Schutz des Lebens als Motiv dieser Politik – ist für uns unglaubwürdig. (…) Der Schutz des Lebens verkörpert sich für uns im Einsatz für eine lebenswerte Zukunft!“
Für unsere Forderungen von damals setzen wir uns nach wie vor aktiv ein:
- Ersatzlose Streichung des §218 – keine Kriminalisierung von Frauen, Ärztinnen und Ärzten!
- Keine Zwangsberatung, aber Rechtsanspruch auf Hilfe und Beratung!
- Kostenübernahme von Verhütungsmitteln und Schwangerschaftsabbrüchen durch die Krankenkassen!
- Verstärkte Forschung für bessere Verhütungsmittel für Männer und Frauen!
- Umfassende Aufklärung und Beratung für Jugendliche!
- Rechtsanspruch auf kostenlose Krippen-, Kindergarten- und Hortplätze!
Wir lassen uns nicht einschüchtern! Wir werden couragiert weiterkämpfen!
Weltweit – für einen legalen und sicheren Schwangerschaftsabbruch
Weltweit ist der Kampf für einen legalen und sicheren Schwangerschaftsabbruch – gegen Verbote und Kriminalisierung ein Brennpunkt der kämpferischen Frauenbewegung, aber auch der Bewegungen gegen ultrarechte und faschistische Regierungen.
- In Polen setzte die faschistoide PIS-Regierung im Herbst 2020 ein faktisches Abtreibungsverbot durch. Ihren massiven und massenhaften Widerstand dagegen geben die Frauen nicht auf.
- In Argentinien haben die Frauen einen großen Sieg errungen. Sie konnte eine der fortschrittlichsten Regelungen durchsetzen. Bis zur 14. Schwangerschaftswoche ist Schwangerschaftsabbruch straffrei und kostenlos. Das öffentliche Gesundheitswesen ist verpflichtet, ihn durchzuführen. Das macht Mut!
Und zeigt – organisiert sind wir stark!
150 Jahre §218 sind genug!
Beteiligt Euch an den Aktivitäten rund um den 15. Mai 2021 und zum Safe-Abortion-Day am 28.09.2021.